Die Demokratie hält auch den Ärger aus

Nicht alles gefällt uns. Warum Solidarität trotzdem Sinn ergibt.

 

Irgendwann ist alles gesagt. Wiederholung statt Information. Die Neuigkeiten verlieren an Wert. Das hundertste Corona-Witzchen, das man geschickt bekommt, mag zwar objektiv lustig sein, doch es ermüdet bloß noch. Und soll man das 87. Video wirklich noch anklicken? Selbst zum Löschen ist man zu müde. In der Familie ist alles besprochen, die Freunde, die anrufen, haben nichts zu erzählen. Allein die Frage „Und, was gibt es Neues?“ wirkt absurd. So tauscht man sich kurz aus, wiederholt, was man schon gestern, vorgestern und wahrscheinlich auch schon vor einer Woche gesagt hat. Während die Wiederholung vor ein paar Tagen noch gut tat, weil man sich gegenseitig versichern konnte, dass schon alles seinen Sinn haben werde, scheint eine weitere Bestätigung dieses Gedankens heute fahl. Langeweile, letztlich auch bei jenen, die im Stress sind.

Dieser Status ist der gefährlichste Moment. Es ist das Vakuum vor dem Widerstand. In solch einer Situation braucht es nur jemanden, der den ersten Aufruf macht, sich öffentlich beklagt und dabei eine Winzigkeit auslässt, irgendetwas verkürzt, doch den Ton trifft. Oder einen falschen Zusammenhang bringt, der zunächst nicht auffällt, weil der Ärger gerechtfertigt scheint und weil man ihn selbst auch spürt. Man hat ihn nur noch nicht in so gute Worte gekleidet, wie es die Person tut, die sich öffentlich aufregt. Aber da ist endlich jemand, der es tut, der ausspricht, was in mir vorgeht. Und plötzlich mache ich selbst meinem Unmut Luft. Ich poste, ich like, ich bin sauer. Und dann sehe ich, dass es falsch ist, wie mit mir umgegangen wird, dass es ungerecht ist, dass man mich einschränkt, mich, mich, mich. Und dann meine ich, das ganze System sei falsch. Die Demokratie am Ende.

Es braucht einen Funken oder schlechte Regierungskoordination

Es ist der große Moment des Populismus. Hier eine Zahl, dort ein gestreutes Gerücht über eine weitere Einschränkung, die nur der Freiheitsberaubung dient, und ein absichtlich oder unabsichtlich fehlender Zusammenhang. Es reicht, wenn etwas einseitig beleuchtet wird und dadurch ein essentielles Teilchen Information fehlt.

Dann braucht es in der Regierung lediglich ein ungeschicktes Statement und eine zu späte oder schlecht koordinierte Korrektur. In einem System, das rund um die Uhr arbeitet, können und müssen Fehler passieren. Doch wenn Langeweile, Sorge und latente Unzufriedenheit auf einen Kommunikationsfehler prallen, gerät die Glaubwürdigkeit der Notmaßnahmen leicht ins Schwanken.

Glaubwürdigkeit hat wenig mit Wahrheit zu tun

Statistisch trägt die Bevölkerung die Maßnahmen der Regierung. Doch es gibt in zunehmendem Maße jene, die sich aufregen. Sei es, weil das Wetter zu schön ist, um noch ein paar Tage zu Hause zu sitzen, sei es, weil man sich Sorgen um sein Geschäft, seinen Job oder den wachsenden Zorn im Bauch macht. Oder weil die Angst vor Covid-19, vor der Zukunft, vor dem wirtschaftlichen Absturz oder vor der Gewalt im Haus nicht weggeht, sondern wäschst. Jeder Ärger und jede Angst haben Ursprung und Berechtigung. Sie zu unterdrücken schadet. Doch wie dagegen ankämpfen, wenn man sich als Gefangener im eigenen Heim fühlt?

Noch dazu, wenn das Zuviel an Nachrichten gleichzeitig ein Zuwenig an konkreter und glaubwürdiger Information darstellt? Glaubwürdigkeit hat ja nicht immer mit Wahrheit zu tun, sondern mehr mit ihrer Vermittlungsform. Schließlich ist es doch so: Man kann noch nicht endgültig beurteilen, welche Regierungsentscheidungen insgesamt hilfreich sind. Ahnen kann man es. Doch dieses Ahnen ist immer gepaart mit Gefühlen und mit Präferenzen. So glauben wir, was wir glauben wollen. Wir können an nichts glauben, das wir nicht wollen. Und wenn das, woran wir glauben sollen, sehr unbequem ist, dann muss die Kommunikation umso genauer, behutsamer und erklärender sein. Zumindest in einer Demokratie.

Solidarität beginnt da, wo es schwierig wird

Solidarität ist ein guter Ansatz dafür. Lange hat man uns eingeredet, dass Individualismus wohltuend sei und wir uns nur um unser eigenes Seelenheil kümmern müssten, dann werde es allen gut gehen. Solidarität ist wesentlich schwieriger. Heute bedeutet sie, das Ich hinter das Kollektiv zu stellen. Das mag nach Kommunismus klingen, doch wer es ausprobiert, wird wahrscheinlich feststellen, dass es nicht weh sondern gut tut. Da sind wir wieder beim Seelenheil und beim Individualismus. Ich kann etwas beitragen.

Die Regierung hat Maßnahmen gesetzt und wir sind gefolgt. Man kann nun jammern, sich ärgern und damit riskieren, dass es umsonst war. Oder man kann beschließen, noch ein wenig bei der Solidarität und der Einschränkung zu bleiben, um der Regierung (unter strenger Kontrolle der Opposition) die Gelegenheit zu geben, die Maßnahmen nach Ostern schrittweise zu lockern. Die Entscheidung, wer wann was darf, wird weder einfach sein, noch wird sie alle glücklich machen, doch die Kommunikationsfehler, die die Regierung dabei macht, sollten nicht dazu führen, dass wir riskieren, dass viele MitbürgerInnen in diesen letzten Wochen sehr große Opfer umsonst bringen mussten. Sie taten es, damit weniger erkranken, weniger sterben und wir weniger Gelegenheit bekommen, andere unwissentlich anzustecken und damit zu gefährden. Vielleicht stellen wir am Ende fest, dass diese Solidarität, zu der wir jetzt gezwungen werden, das ist, was diese Krise durchaus überdauern darf.

Erstmals erschienen in: Dolomitenstadt