Eine Chance für das freie Mandat

Warum die nächste Regierung mit dem Klubzwang aufräumen muss

 

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Sebastian Kurz ist Bundeskanzler einer türkis-grünen Regierung. Das ist denkbar. Kritisch wird es, wenn er plant, die Grünen in die Regierung zu nehmen, zugleich aber das Bedürfnis verspürt, jene Wählerinnen und Wähler zu bedienen, die von der FPÖ zu ihm gewandert sind. Auch das ist realistisch. Damit wird in einigen Bereichen Meinung gegen Meinung stehen, Weltbild gegen Weltbild – und bekanntlich sind Weltbilder emotional besetzt.

Kompromissbereitschaft und Klubzwang

Selbst wenn Werner Kogler kompromissbereit ist und bei manch unbequemen Fragen nachgeben wird (müssen), ist es unwahrscheinlich, dass immer alle Grün-Abgeordneten mitstimmen, denn sie haben keinen Klubzwang. In den grünen Klubsitzungen wird zwar festgesetzt, wer wie stimmt, doch wird die Abstimmung nicht vorgegeben, sondern breiter diskutiert – zumindest bei kritischen Themen. Peter Pilz etwa hat in seiner grünen Vergangenheit immer wieder von dem Recht, dagegen zu stimmen, Gebrauch gemacht.

Der Symbolcharakter eines solchen Handelns ist nicht zu unterschätzen. Allerdings funktioniert es besser in der Opposition, weil es bei einer Regierungsbeteiligung wie ein Placebo wirkt. Motto: Stimmen wir halt ein bisserl dagegen. Nur kann man nicht ein bisserl dagegen oder ein bisserl schwanger sein. Das würde einem von den Wählerinnen und Wählern als Opportunismus ausgelegt.

Bei einer Regierungsbeteiligung von nur fünf Stimmen Überhang kommt hinzu, dass man genau festlegen muss, wer gegen eine Regierungsvorlage stimmt und wer nicht. Das Risiko eines Abstimmungsdesasters schwingt immer mit. Gleichzeitig geht demokratiepolitisch genau das nicht, denn das freie Mandat ist nicht teilbar in regierungstreu und frei.

Klubzwang, getarnt als Klubdisziplin

Das Mandat ist nämlich nicht an einen Auftrag gebunden, heißt es in Artikel 56 der österreichischen Verfassung. Das bedeutet, dass der Klubzwang auch dann nicht weniger illegitim wird, wenn man ihn als Klubdisziplin ausweist. Jede/r Abgeordnete hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, nach eigenem Wissen und Gewissen abzustimmen. Er oder sie ist dabei weder der eigenen Partei noch den Wählerinnen und Wählern im Wort, solange die Entscheidungsgrundlage nahelegt, dass ein Andersstimmen demokratiepolitisch vernünftiger ist.

Die grüne Basis ist allerdings empfindlich, wenn ihre Mandatarinnen und Mandatare nicht das machen, was diese Basis als richtig empfindet. Insofern wird zumindest ein Teil der Abgeordneten immer wieder gegen einen Regierungsvorschlag stimmen müssen, wenn es um heikle Positionen geht, sei es bei einer weiteren Arbeitszeitflexibilisierung, beim Gewaltschutz oder einer Steuerreform. Das ist gut für die Demokratie, weniger gut für das Regierungsklima.

Dreierkoalition als Ausweg für das freie Mandat?

Der Ausweg hier könnte dennoch recht einfach sein: Man braucht eine größere Mehrheit, sodass mehr Abgeordnete anders stimmen können. Der Sinn dahinter ist nicht nur der vorhin angesprochene symbolische Akt, sondern das Aufzeigen jenes demokratischen Kerns von Politik, dass man für eine Zusammenarbeit und doch nicht immer einig sein muss – und sich danach trotzdem wieder zusammensetzen kann, ohne einander zu misstrauen.

Möglich wird dies bei einer türkis-grünen Option nur mit einer Beteiligung der Neos, die ebenfalls keinen Klubzwang haben, allerdings eine hohe Klubdisziplin aufweisen. Der Vorteil einer solchen Dreierkoalition mit tatsächlich freien und nicht klubmäßig gebundenen Abstimmungen wäre so gesehen durchaus politische Bildung, denn man müsste mehr diskutieren und Entscheidungen tatsächlich erklären. Das bedeutet, dass man ständig im Gespräch mit der Bevölkerung sein müsste, was dem Wesen der Demokratie entspricht, aber selten gemacht wird.

Die österreichischen Wählerinnen und Wähler sind harmoniebedürftig und wollen keine streitende Koalition. Wenn es einer Regierung gelänge vorzuleben, Harmonie im Auftritt zu zeigen und dennoch nicht die eigenen Prinzipien zu verraten, wäre dies die hohe Schule der Demokratie. Eine türkis-grüne oder eine türkis-grün-pinke Koalition könnte das vielleicht ermöglichen.

Erstmals erschienen in: Der Standard