Wahlkämpfende Parteien rechnen damit, dass die Wählerinnen und Wähler nicht genau hinhören und hinschauen. Zweifeln ist wichtig und regt zum Nachdenken an
Selektive Wahrnehmung hat durchaus ihre Vorteile. Man muss nicht alles hören oder sehen, was gesagt wird. Das gilt insbesondere für den Wahlkampf, denn die Kandidatinnen und Kandidaten treffen derzeit nahezu im Halbtagestakt in TV- und anderen Konfrontationen aufeinander. Daraus entstehen relativ festgefahrene Kommunikationsmuster, denn man hat einander längst alles gesagt, was es zu sagen geben könnte – und, wichtiger: Man hat es den Wählerinnen und Wählern schon mehrfach gesagt, und das in taktisch vorbereiteten, relativ einfachen und reduzierten Worten.
Genau hier liegen die Herausforderung und der große Vorteil für die Kandidatinnen und Kandidaten: Die Wählerinnen und Wähler wissen, was sie zu erwarten haben. Gleichgültig, ob sie sich bereits entschieden haben oder nicht, wissen sie, wer auf welche Frage oder einen Vorwurf so oder anders reagieren wird. Mit den tatsächlich vermittelten Botschaften muss dies nicht unbedingt in Zusammenhang stehen, denn es geht viel mehr um Erwartungen als um Fakten; und darum, dass man die Erwartungen als Wählerin und Wähler erfüllt sehen möchte.
Sehen und hören, was man erwartet
Wer sich fragt, warum manche konkreten Fehler oder Hoppalas der Kandidatinnen und Kandidaten und ihres Umfelds keinerlei Auswirkungen auf die Umfragen zum Wahlsonntag haben, findet hier eine Antwort. Das Gehirn blendet aus, was das Herz nicht hören oder sehen will. Wir alle kennen die Diskussionen am Stammtisch, beim Familienmittagessen oder im Beruf: Man dringt einfach nicht zu den anderen durch. Man meint, noch so gut zu argumentieren, und wird trotzdem nicht gehört. Schon einmal daran gedacht, dass es den anderen gleich geht?
Selbstverständlich sind wir resistent gegen Fakten, wenn diese unbequem sind. Das ist zwar alles andere als klug, doch angenehm. Man muss nicht umdenken, man braucht nichts Neues zu lernen, und man muss sich nicht näher mit dem Thema beschäftigen, wenn man ohnehin schon weiß, was man hören will. So müssen die Kandidaten nur eines tun: leere Sätze wiederholen, doch dies mit sehr viel Emotion. Es ist nämlich hauptsächlich die Leidenschaft, das Andocken an den Emotionen der Wählerinnen und Wähler, was diese überzeugt. Dabei ist es nicht so, dass jemand dumm ist oder nichts Neues oder anderes hören möchte, sondern dass Wahlkampf gelernt wird, und eben nicht nur von den Parteien. Auch die Bevölkerung hat ihre eingespielten Wege, um auf Wahlkämpfe zu reagieren. Emotionen werden dabei nicht nur von den Politikerinnen und Politikern geschürt, sondern auch von den Medien immer wieder vermittelt.
Brauchen Emotionen kein Programm?
So verwundert es kaum, dass die Wahlprogramme diesmal besonders spät publik gemacht werden. Das liegt keineswegs am überraschenden Ende der türkis-blauen Regierung, sondern vielmehr daran, dass inzwischen alle Parteien begriffen haben, dass man nicht so sehr mit Inhalten Wahlen gewinnt, sondern dass dies den Emotionen überlassen ist.
Wer braucht noch eine konkrete Vorstellung davon, wie etwas umgesetzt wird, wenn mit schönen Allgemeinsätzen und Rehaugen gesagt wird, dass man sich darum kümmern wird?
Für all jene, die jetzt aufschreien: Natürlich will man, dass die von einem gewählte Partei sinnvolle Inhalte vertritt und in der Folge umsetzt. Doch wer liest wirklich ein Wahlprogramm? Und wer liest vor allem das Programm einer Partei, die man gar nicht erst vorhat zu wählen?
Der Zweifel ist der gesündeste Faktor in der Politik
So sehr man hoffen muss, dass die Bevölkerung Vertrauen in ihre politischen Vertreterinnen und Vertreter hat, so sehr muss man ebenfalls hoffen, dass dieses Vertrauen nicht die Sinne trübt, sondern Platz lässt für das wichtigste Werkzeug: den Zweifel. Nur der Zweifel kann Risse in Manipulationen und emotionsträchtigen Botschaften verursachen.
Dazu muss die Bevölkerung aber auch die Möglichkeit erhalten, sich eine eigene Meinung zu bilden, weit über das emotionale Erleben hinaus. Das geht nur mit einerseits objektiven Medien und andererseits Politikern und Politikerinnen, die ihre Aufgabe ernst nehmen und konkrete Ansagen treffen, ohne auf der Emotionsklaviatur zu spielen. Das bedeutet, auf die Fragen, Sorgen und Bedürfnisse der Bevölkerung, deren Vertreter sie ja sind, auch im Wahlkampf einzugehen. Dazu müsste man der Bevölkerung zutrauen wollen, dass sie selbstständig denken kann und sehr wohl fähig ist, seriöse politische Themen zu verdauen und sich daraus eine qualifizierte Meinung zu bilden. Das wiederum setzt voraus, dass sie von politischen Akteuren ernst genommen wird.
Erstmals erschienen in: Der Standard