Wir haben die einmalige Chance, Fehler von früher nicht zu wiederholen.
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, sagt man. Das langfristige Opfer einer Krise ist die Fähigkeit zu sehen, weil man damit beschäftigt ist, den Normalzustand zurückzuholen, ohne zu überlegen, ob dieser so wunderbar war. Man müsse nun schnell investieren, wieder aufbauen und den Lockdown quasi ungeschehen machen, hört man. Große Unternehmen stehen Schlange bei der Regierung, machen Druck und malen düstere Zukunftsbilder, falls nicht vor allem ihre Firma gerettet würde. Die Gewerkschaft ist ihr bester Sparringpartner und kämpft für Arbeitsplätze in veralteten Branchen. Umweltzerstörung, war da was?
Die wahre Chance liegt im genauen Hinsehen
Dabei bestünde jetzt die einmalige Chance, manche Fehler von früher nicht zu wiederholen, das Geld nicht wieder in Branchen zu stecken, die den Klimawandel vorantreiben und die Schere zwischen Arm und Reich zusätzlichen erweitern. Man könnte genau hinsehen. Es gibt zahlreiche Unternehmen, die auf nachhaltige Weise und für eine ökologisch sowie ökonomisch vernünftige Wirtschaft arbeiten. Sie zu unterstützen würde kurzfristig weniger Arbeitsplätze schaffen, doch auf Dauer umso mehr.
Für die Regierung werden die kommenden Wochen und Monate schwer, denn der Druck der Lobbys wird von allen Seiten kommen, und doch werden die PolitikerInnen die Aufgabe haben, nicht nur an das Heute und Morgen zu denken, sondern auch an das Übermorgen. Da kann eine Krise als solche in die Geschichte eingehen, oder als der Moment, der genützt wurde, um umzudenken. Und das wiederum betrifft nicht nur die Regierung, sondern jedes Unternehmen, auch die kleinen und regionalen, die sich überlegen können, welche Firmen sie in ihrem Geschäft präsentieren, welche Gerichte sie in ihrem Lokal aus regionaler Landwirtschaft zaubern wollen oder lieber aus der Ferne importieren. Und es betrifft die KonsumentInnen, die all diese Entscheidungen fördern können.
Da ist noch jene andere Welt … die der Armut
Doch das ist nur die eine Seite, die Herausforderung liegt derzeit auch ganz woanders, nicht so öffentlich, sondern eher versteckt, doch wenn jetzt darüber gesprochen wird, wie das Geld am sinnvollsten investiert werden soll, könnte man auch den gewagten Versuch machen, darauf zu achten, was die Bevölkerung braucht – und damit sind nicht nur die Sichtbaren gemeint.
Da ist die alleinerziehende Mutter, die seit Wochen ihre Kinder zuhause hat und parallel dazu versuchen muss, ihre Arbeit im Homeoffice zu machen. Da ist die Frau, die ihren arbeitslosen Mann, der nun im Alkohol seinen besten Freund sieht, davon abhalten muss, sich an den Kindern abzureagieren, und all die Schläge einsteckt, mit denen er seinen Zorn auf die Welt loszuwerden versucht. Da ist Jene, die nicht an Covid-19 erkrankt ist, doch keine Kraft mehr hat, weil sie wochenlang gepflegt, beruhigt, versorgt und – versteckt in einer viel zu kleinen Wohnung – ihre Familie irgendwie zusammengehalten hat.
Armut ist nicht immer sichtbar
Und da ist jene Andere, die die Fotos von all jenen sieht, die nun stolz jede neu probierte Speise in den asozialen Medien präsentieren, um an den Kommentaren zu sehen, dass sie geliebt werden. Jene Andere aber sieht die Selbstinszenierung oder sie sieht sie eben nicht, denn sie hat weder Zeit für die Beweihräucherung, noch hat sie die finanziellen Mittel, sich zu beteiligen. Seit Wochen tischt sie auf, was vom letzten Gehalt noch übrig ist.
Vielen Frauen aber auch Männern geht es seit Jahren so, ganze Bevölkerungsgruppen werden konstant an die Ränder gedrängt, in jeder Stadt, in jeder Region. Zu viele Dramen bleiben verborgen, viele Geschichten, die es wert wären, erzählt zu werden, erfährt man nie, weil die Welt der Armut nur in Filmen romantisch verklärt auf jene der Reichen und der EntscheidungsträgerInnen stößt. In der realen Welt dient sie maximal als abstrakter Begriff, nicht zuletzt der Politik.
Die Lücke füllen
Jetzt, da wirtschaftlich und sozial wahrscheinlich auf globaler wie auf regionaler Ebene weit mehr zerstört worden ist, ist als man derzeit sieht, gibt es die wahrscheinlich nicht so schnell wiederkehrende Möglichkeit, einiges anders zu machen und zu testen, ob nicht Wirtschaftserfolg und Menschenwürde zusammenpassen. Was so utopisch klingt, wäre derzeit greifbar.
Man könnte nun in nachhaltige Wirtschaftszweige investieren, man könnte jene Branchen stützen, die regional ihre Produkte so herstellen, dass die Umwelt nicht zum Opfer wird, und man könnte Arbeitsplätze schaffen, die es den Arbeitenden ermöglicht, in Würde zu leben und genug zum Leben zu haben.
Dazu wird es tapfere Politiker und Politikerinnen brauchen, die es wagen, auch einmal ein Nein auszusprechen, wenn eine Riesenfirma, eine Bank oder eine Versicherung die Hand aufhält. Und es wird UnternehmerInnen brauchen, die umdenken – und KundInnen, die bereit sind, den Wert eines Produktes nicht darin zu sehen, dass es jederzeit ersetzbar ist.
Zuerst erschienen in: Dolomitenstadt