Auch wenn manches wie im Film erscheint, ist das demokratische Happy End doch nicht selbstverständlich
Anfang der 1990er-Jahre sorgte der französische Anthropologe Marc Augé mit dem Begriff „Nicht-Orte“ für Aufsehen. Er beschrieb damit Orte oder Räume, die so gestaltet sind, dass man nicht lange verweilen will; Warteräume, Bahnhofshallen oder Flughäfen. Man befindet sich auf der Durchreise. Die Architektur sorgt dafür, dass es so bleibt, obwohl dies nie so gesagt wird. Es ist immer ein wenig zu unbequem, die Stimmung ein bisschen zu steril, selbst wenn so getan wird, als wäre alles gestylt und zum Wohlbefinden geschaffen. Da man es nicht anders gewohnt ist, wundert man sich nicht und ist froh, den Nichtort wieder verlassen zu können, denn man wird dort zwar geduldet, ist jedoch nicht willkommen und soll sich noch weniger so fühlen.
Kritisch wird es dort, wo der öffentliche Raum ähnlich gestaltet wird, wenn etwa Parkbänke entfernt oder alteingesessene Kommunikationsflächen so umgebaut werden, dass man die Menschen verdrängt. Das Motiv lautet dann meist Sicherheit oder Modernisierung, und es wird weltweit in Parks, auf Plätzen, in Straßen angewandt – auch schon vor der Pandemie. Dadurch wird auch der öffentliche Raum zur Durchreisestation ohne konkrete Begegnungen.
Demokratie braucht Kommunikation
Was nach einem städteplanerischen Problem klingt, hat demokratiepolitische Auswirkungen. Demokratie nämlich kann ohne Begegnung und Austausch nicht existieren. Demokratie braucht das, was die Menschen benötigen: Kommunikation und das Miteinander. Der öffentliche Raum bietet den alltäglichen Diskurs, macht sichtbar, wie eine Gesellschaft zusammengesetzt und organisiert ist und wie die einzelnen Gruppen miteinander in Beziehung treten oder nicht. Jede Beschränkung des öffentlichen Raums nimmt die Möglichkeit auf Begegnung. Das mag politisch bequem sein, etwa um Austausch im Sinne des Widerstands, Rebellion oder politische Aktion (letztlich auch in Form von Kunst) zu verhindern, doch die tatsächliche Gefahr steckt hinter der Verhinderung des ganz alltäglichen Austausches. Damit spaltet man die Öffentlichkeit, ohne dass diese es bemerkt, denn der Prozess der Nicht-(mehr-)Begegnung verläuft langsam.
In den letzten Wochen wurde ein wenig davon deutlich, auch wenn man es zunächst nicht benennen konnte. Etwas an den leeren Straßenzügen war trotz angenehmer Stille und der Rückkehr von ein wenig Natur irritierend. Es war nicht die Leere an sich, denn diese hatte auch etwas Ästhetisches an sich. Vielmehr war es der Umstand, dass Kommunikation und Begegnung massiv beschränkt wurden.
Der Blick aus dem Fenster verrät selbst nach den zunächst partiellen, dann verstärkten Öffnungen: Die vertraute Nachbarschaft hat sich insgesamt verwandelt. Die Ausgangssperren und Betretungsverbote haben aus belebten Plätzen in wenigen Tagen Nichtorte gemacht, und etwas scheint verändert, auch wenn sich die Plätze vorsichtig füllen. Während die Konsequenzen der vielfachen Verordnungen intensiv diskutiert werden, ist der öffentliche Raum für einige Wochen zur demokratischen Leerstelle geworden. Die Folgen sind noch nicht konkret absehbar.
„Das ist wie in einem Science-Fiction-Film“, sagten manche zu Beginn des Lockdowns verwundert. Leere Straßen, Polizeikontrollen, abgeschirmte Politikerinnen, die sich aus der Distanz und mit viel Inszenierung an das Volk wenden, Ausgangssperren, geschlossene Geschäfte, Homeoffice.
Gewohnheit als Feind der Demokratie
Dystopische Filme wie „Matrix“, „12 Monkeys“ oder „Fahrenheit 451“ lassen grüßen. In Letzterem wird die eigentliche Gefahr von radikalen Maßnahmen und Nichtorten deutlich vorgeführt: Menschen gewöhnen sich daran und hören auf, kritisch zu denken. Denn wird die Eigenverantwortung über längere Zeit ausgesetzt, wird auch dieser Zustand zum Alltag, den man nicht mehr hinterfragt. Solche Gewohnheit gehört zu den größten Feinden der Demokratie. Wer sich zu sehr in einem Zustand einfindet, verliert nicht nur die Einschätzungskraft, ob der Zustand gut oder schlecht ist, sondern wird auch taub gegenüber demokratischen Warnzeichen.
Dann wird Information auch dort gesucht, wo man ansonsten keine Wahrheit vermuten würde. Jene, die es am besten vermögen, das seltsame Bauchgefühl zu bestätigen, bekommen Glauben und Vertrauen geschenkt. Die nackte Wahrheit wirkt zu banal, um geglaubt werden zu können. Das Komplexe und Dystopische an Verschwörungslegenden scheint dann unumstößliche Wahrheit, denn sie erklärt vermeintlich das eigene Unwohlsein. Auch dafür sorgt das Weggesperrtsein aus dem öffentlichen Raum.
Das Berieseltwerden durch ununterbrochene Berichterstattung zum selben Thema und zu ständig neuen politischen Maßnahmen steht in starkem Kontrast zu einer anderen Form der Langeweile, die der Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer exzellent beschrieben hat: Er ging davon aus, dass man tief in die Langeweile eintauchen müsse, bis nichts mehr da ist, mit dem man sich langweilen kann, dann entstehe ein Zustand des Denkens, der sich in besonderer Kreativität oder in Rebellion zeige. Das funktioniert allerdings nur – so Kracauer schon 1929 –, wenn man sich nicht von Information einlullen lässt. Die Isolation und die exzessive Mediennutzung der letzten Monate bewirken das Gegenteil: Sie legen Kreativität und politisches Denken lahm.
Womit man wieder bei der Gewohnheit als Feind der Demokratie wäre, wobei Demokratie auch vor der jüngsten Krise häufig negativ besetzt wurde, ob als illiberal, fragmentiert oder postdemokratisch. Verschiedenste neue Worte für den Zustand der Demokratie wurden in den letzten 20 Jahren gefunden, nahezu alle davon kritisch und ein nahes Ende ausrufend. Der Grundtenor vielfach: dystopisch. Als wäre die Demokratie ein Film.
Demokratie heilt sich nicht selbst
Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die Bilder aus Filmen eine Wirklichkeit in den Köpfen geschaffen haben, die nur deshalb die aktuelle Situation nicht so fremd wirken lässt, weil man sie bereits unzählige Male im Kino oder Fernsehen gesehen hat: ein durchstrukturierter öffentlicher Raum, organisierte Begegnung, Kontrolle. Hat man sich zuerst an die Filmbilder gewöhnt, sodass sich die Realität in diese vertrauten Bilder einfügen lässt? Demnach würde die Dystopie zum Normalzustand, zur neuen Normalität.
Hans Kelsen, der Vater der österreichischen Verfassung, glaubte, dass sich Demokratie ständig verändern müsse, um lebendig zu bleiben. Er behielt für sich, in welche Richtung sie sich ändern muss. Demokratie ist nicht nur ein politisches System. Demokratie ist zudem eine Lebenseinstellung, ein Lebensstil. Man geht nicht nur alle paar Jahre in die Wahlzelle, politisches Sein und Tun wirken immer auch in den Alltag hinein, das geht von Konsumentscheidungen über den Arbeitsplatz bis hin zur Auswahl der Medien, die man konsumiert, der Menschen, die man trifft, und jener, die man meidet.
Das wiederum muss nicht bedeuten, dass alle Menschen politisch sind, doch neben ihren erkämpften Rechten liegt demnach auch die Verantwortung für die Demokratie direkt bei ihnen. Demokratie kann auf Dauer kein Nichtort sein, sonst wird die Leerstelle von anderen Systemen gefüllt. Demokratie wird sich auch nicht selbst redemokratisieren, sondern es wird an der Kreativität der Bürgerinnen liegen, ihre Demokratie weiterzubauen. Denn aus der Dystopie führt nie ein Herrscher, sondern stets nur die Bevölkerung. (Daniela Ingruber, 19.6.2020)
Literaturhinweise
- Augé, Marc (2014): Nicht-Orte. Verlag C. H. Beck: München (4. Aufl.)
- Baudrillard, Jean (2006): Die Intelligenz des Bösen. Passagen Verlag: Wien
- Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main
- Kracauer, Siegfried (1929/2002): Boredom. In: Highmore, Ben (Hg.): The Everyday Life Reader. Routledge: London/New York, S. 301–304
- Manow, Philip (2020): (Ent-)Dmeokratisierung der Demokratie. Suhrkamp Verlag: Berlin
- Virilio, Paul (2001): Die Kunst des Schreckens. Merve Verlag: Berlin
Erstmals erschienen im Politikwissenschaftsblog von Der Standard.