Auch ein Bundeskanzler darf nicht alles

Die von der Pandemie geschwächte Demokratie braucht ihre unabhängige Justiz.

 

Die Orbanisierung Österreichs hat nicht erst gestern begonnen. Sie geht voran, nicht zuletzt mit Hilfe der Pandemie. Hier eine Umgehung der Verfassung, wissend, dass der Verfassungsgerichtshof einige Wochen braucht, um dies zu beanstanden, dort eine Verordnung, unsauber formuliert, weil sie ohnehin nur kurzfristig gültig ist, immer wieder ein Agieren am Parlament vorbei – all das argumentiert mit dem Zeitdruck aufgrund der Pandemie. Macht nichts, eine gefestigte Demokratie hält das schon aus.

Das tut sie. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Eine davon ist der zeitliche Rahmen. Aus ein paar Wochen wurde ein Jahr. Selbst das kann eine Demokratie ohne langfristigen Schaden überstehen, doch die Bedingungen dafür werden strenger, und man (insbesondere jede/r PolitikerIn) muss sich dessen bewusst sein, dass eine durch die Pandemie geschwächte Demokratie besonders sensibel ist.

Auch eine Demokratie benötigt Anteilnahme

So wie die Menschen erschöpft sind, ist es auch die Demokratie. Wie die BürgerInnen dringend Erholung brauchen und ihre Freiheiten wieder ausleben müssen, um zu Kräften zu kommen, gilt dasselbe für die Demokratie. Ohne Pflege und Anteilnahme geht auch sie verloren. Einer Regierung wäre zuzutrauen, dass sie das weiß. Zumindest die Berater im Hintergrund sollten es wissen. Und nicht nur sie.

Eine Demokratie ist dann widerstandsfähig, wenn es eine Opposition gibt, die ihre Aufgabe nicht im unabdingbaren Widerspruch zwecks Medienpräsenz sieht, sondern weiß, wann man mit der Regierung mitgehen kann und wann man deutlich widersprechen muss. Dazu ist das Parlament da. Es ist die von der Verfassung beauftragte Hüterin der Demokratie – gemeinsam mit einer unabhängigen Justiz.

Wenn die Justiz angegriffen wird, ist Vorsicht geboten

Zudem verlangt die Demokratie nach einer wachen Bevölkerung, die nicht glaubt, dass „da oben“ alles im Eigeninteresse gerichtet wird, sondern weiß, dass es „die da oben“ gar nicht gibt, weil sie nicht höher, besser oder sonst etwas sind, was es rechtfertigen würde, wichtiger oder wertvoller zu sein, als die BürgerInnen selbst. Jene an der Macht mögen ihr Dienstverhältnis bei der Bevölkerung manchmal vergessen, siehe undurchsichtige Entscheidungen, frühzeitige Impfungen unter Freunden und Unkenntnis des Wortes Transparenz. Die Bevölkerung hingegen sollte sich im eigenen Interesse nach Freiheit daran erinnern.

Wenn die Angriffe gegen die Demokratie Österreichs von der Regierungsspitze aus geschehen, ist besondere Vorsicht geboten. Offensichtlich weilen dort Personen, die sich als erhaben über die Justiz empfinden. Wenn diese Haltung gepaart ist mit dem Wunsch, den Informationszugang der Medien und deren Pressefreiheit einzuschränken, dann sollten auch jene Teile der Bevölkerung aufwachen, die sich ansonsten wenig für Politik interessieren.

Da ist sie, die (Orban-) oder Kurzisierung

Das Nachbarland Ungarn macht es schauerlich vor: Ein Schritt nach dem anderen und jede Gelegenheit nützen. Zunächst ein paar ausgeklügelte Postenbesetzungen, ein paar Kündigungen, eine Förderung da, während bei den Medien die eine oder andere gestrichen wird. Millionen für Inserate und weniger Geld für humanitäre Organisationen. Wissen, wer die Freunde sind und diese inoffiziell – wozu gibt es social media? – hie und da um einen Gefallen bitten. Dafür empfiehlt man die betreffende Firma freundlich beim Auslandsbesuch. Unangenehme Journalisten lädt man nicht zu Pressekonferenzen und ihre weiblichen Pendants nennt man hysterisch oder unhübsch. Und wenn schließlich die Justiz lästig wird, verunglimpft man ihre Behörden, betont, dass man sich gewiss nicht einmischen werde, um dann einen Brief zu schreiben, in dem man genau das tut.

Moment, reden wir hier wirklich von Ungarn? Schön wäre es, dann könnte man sich noch ein Weilchen zurücklehnen, glaubend, dass sich die Demokratie bald erholen würde. Leider sieht es derzeit anders aus. Der Ich-Faktor hat um sich gegriffen und scheint ebenso ansteckend wie ein berühmtes anderes Virus zu sein. Dieser Faktor besagt, dass nicht sein kann, was dem eigenen Tun und Ruf schadet. Daher wird verunglimpft, wen man nicht abschaffen kann.

Mit Feuer spielt man besser nicht

Noch ist die Justiz stark genug, mit Hilfe der gegebenen Gesetze verfassungskonform zu entscheiden. Doch wenn selbst aus den Reihen der ÖVP zu hören ist, dass Sebastian Kurz aufhören müsse mit dem Feuer zu spielen (O-Ton Heinrich Neisser) und Verfassungsexperten rufen, die unabhängige Justiz sei in Gefahr, dann ist Skepsis angesagt. Die Opposition ist zu Recht in Aufruhr. Als Bürgerin oder Bürger muss man noch nicht handeln, sehr wohl aber hat nun jede und jeder die Aufgabe, das Geschehen zu verfolgen, um dann selbst entscheiden zu können, in welcher Form der Demokratie man leben möchte.

Zudem braucht die Demokratie, ermattet durch das letzte Jahr, nun die Verfassung als Stütze – und einen Bundespräsidenten, der wiederum die Verfassung stützt, indem er an sie erinnert und sie über alle Diplomatie stellt.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt