Der Punkt auf dem Blatt Papier

Die Regierung begreift nicht, wo die wahre Gefahr für die Demokratie liegt.

 

„Also, ich geh nie wieder wählen“, sagt die Verkäuferin im Supermarkt. Eine Kundin nickt zustimmend. Eine andere blickt verstört, als wollte sie etwas sagen, entscheidet sich dann doch zum Schweigen. Die Verkäuferin murmelt noch etwas von „alle gleich … also mit mir nicht.“ Schon ist die kleine Szene vorbei und sie würde nicht im Gedächtnis bleiben, wenn sie sich nicht in der einen oder anderen Art ständig wiederholte. Es gibt keinerlei statistische Evidenz über die aktuelle Häufigkeit solcher Szenen. Die nächste Umfrage über Politikverdrossenheit dürfte dennoch interessante Ergebnisse bringen.

Der Überblick ist verloren gegangen

Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen, ausgenützt und manipuliert. Gab es anfangs geduldige Erklärungen der Regierung, haben sich manche als falsch oder die Verordnungen selbst teilweise als juristisch inkorrekt herausgestellt. Zugleich hat die Masse an Befehlen dafür gesorgt, dass man den Überblick verlieren musste.

Immer aber, wenn der politische Überblick verloren geht, haben jene leichtes Spiel, die alternative Fakten finden oder aus den Fehlern Geld machen wollen. So ist es kein Zufall, dass sich Aufrufe über Facebook & Co. häufen, in denen Sammelklagen gegen Einzelregierungen oder gegen die Europäische Union viel Geld versprechen. Selbst wer dem nicht folgt, spürt, es ist etwas faul.

Keine Identifikationsfigur weit und breit

Die Demokratie als politisches System hat schon schlimmere Krisen und vor allem üblere PolitikerInnen ausgehalten. Doch es ist die Bevölkerung, die strauchelt. Der Grund liegt einmal mehr in der Kommunikation. Betrachtet man die Regierung und fragt sich, wem man wirklich vertrauen möchte, wer aufgrund seiner/ihrer Geschichte Vorbild sein kann, Integrität ausstrahlt oder jenseits von hübschen Worten für etwas einsteht, wird man nicht viel finden außer leerer Marketingsprache.

Es fehlt die Identifikationsfigur, der man zutraut, die Maßnahmen tatsächlich für den Schutz der Bevölkerung zu treffen. Und wo es die Person gäbe – Gesundheitsminister Anschober wirkte einige Wochen so – zerstört die Gesamtperformance der Regierung mit wankelmütigen Ansagen das letzte bisschen Vertrauen. Wenn Gesundheitsmaßnahmen tagelang warten können, nur weil der Bundeskanzler mit aufs Foto will, ist klar, dass diese Maßnahmen nicht mehr ernst genommen werden.

Die eigentliche Gefahr

Die Regierung begreift anscheinend nicht, dass ihr die Bevölkerung entgleitet, und zwar nicht in Richtung Opposition, weil die einzige richtige Oppositionspartei zu winzig ist, um gefährlich zu sein. Politisch gefährlich sind längst andere: semiprofessionell auftretende Figuren, die die Zweifel der Bevölkerung aufgreifen. Sie benützen eine verständliche Sprache, haben keinerlei Verantwortung und können alles behaupten, alles versprechen. Sie profitieren vom günstigen Moment und den 15 Minuten Berühmtheit, ehe das Publikum weiterwandert. Wer nicht versteht, dass hier eine demokratische Bedrohung lauert, ist die Regierung.

Die hat derweil andere Sorgen. Die Regierungsmitglieder der ÖVP haben Gefallen daran gefunden, ressortübergreifend in diverse Fettnäpfchen zu hüpfen. Die Grünen erfahren aus den Medien, was der Kanzler in Brüssel anstellt und rechtfertigen die Aussagen ihres Koalitionspartners entgegen ihrem eigenen Weltbild. Gleichzeitig wird der Unmut über die Einschränkung der Freiheit größer.

Jetzt regieren? Scheitern vorprogrammiert

Schon lange nicht war regieren so schwer wie aktuell. Scheitern ist vorprogrammiert, denn wie kann man in einer Demokratie schnell, achtsam und rechtskonform gegen eine Pandemie kämpfen? Eine Demokratie kann die meisten Schritte gegen eine Pandemie rechtlich gar nicht zulassen, weil diese undemokratisch sein müssen. Bürgerreche und Menschenrechte wurden in den letzten Monaten nicht nur vernachlässigt, sondern abgedreht. Darauf hat auch der Verfassungsgerichtshof inzwischen sehr eindeutig hingewiesen. Es ist somit nachvollziehbar, dass das Vertrauen in die Regierung sinkt.

Leider wird die Haltung jener Supermarktverkäuferin, nicht mehr wählen zu gehen, nichts besser machen, weil man durch Nicht-Beteiligung die Kontrolle ganz abgibt. Wenn die letzten Monate dazu beigetragen haben, dass sich die BürgerInnen vermehrt zurückziehen, sind die Folgen der Pandemie weit schlimmer als befürchtet. Sich nicht mehr am demokratischen Miteinander zu beteiligen, bedeutet immer auch, die Aufmerksamkeit für aktuelle Entwicklungen zu verlieren. Das ebnet den Weg zur Diktatur.

Ein kleines Spiel fürs Wochenende

Zum Abschluss sind Sie diesmal eingeladen, ein kleines Experiment zu wagen: Nehmen sie ein Blatt Papier und zeichnen sie einen Punkt darauf. Zeigen Sie es Personen in ihrem Umfeld und fragen Sie, was sie sehen. Recht wahrscheinlich wird die Mehrheit den Punkt erwähnen. Die Leere auf dem Blatt, die den Großteil der Fläche ausmacht, wird kaum jemandem auffallen. Wir sind es gewohnt, das Außergewöhnliche, das vermeintlich die Balance stört, deutlicher wahrzunehmen, als die Ruhe und, das, was gut läuft. Theoretisch wäre es möglich, die Perspektive zu ändern und wahrzunehmen, dass es ein glücklicher Zufall ist, in einem Land in Mitteleuropa zu leben, wo Vieles ganz einfach schön ist, gut funktioniert und wo man friedlicher leben kann, als in anderen Weltregionen. Auch das wäre eine Blickmöglichkeit und sie müsste nicht blind gegenüber dem Punkt auf dem Blatt machen.

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt