Der Tag X, der zurückführt, wird nicht kommen

Statt eines traurigen Jahresrückblicks sollten wir nach vorne schauen.

 

Ende Dezember folgen die Jahresrückblicke. An manche Nachrichten erinnert man sich genau, andere scheinen Jahre entfernt und entlocken beim Wiedersehen ein überraschtes „Ach ja“. Doch im Jahr 2020 scheint alles klar: Es gab Corona. Ein Rückblick zeigt noch einmal die Tragik dieses Jahres, denn unter den Dingen, die ohne die Pandemie geschehen hätten können, wären positive Entwicklungen gewesen.

2020 hätte das Jahr der Umwelt werden können. Die Bewegungen gegen den Klimawandel waren kurz zuvor in der breiten Masse angekommen. Der zweite Faktor mit Potenzial war die Jugend. Sie nahm die Straßen ein für ein generelles Umdenken, was Umwelt, Konsum, Ernährung, Arbeitsbedingungen und Werte betrifft. Ihr Einfluss schien endlich zu steigen, doch dann kam alles anders.

Die Versuchung der Gewohnheit

Die Geschichte der Menschheit lehrt uns, dass wir nichts von ihr lernen. Oder? Die Pandemie hat die Welt nicht nur für ein Jahr in den Ausnahmezustand versetzt. Man kann sie auch als intensive Warnung verstehen.

Tatsächlich lautet eines der Szenarien für 2021: Regierungen in der ganzen Welt werden – unter Einfluss von Finanzberatern und Wirtschaftsexperten – erklären, dass „wir alle“ sparen müssen; dass man Gehälter und Pensionen einfrieren oder kürzen muss, dass Förderungen für Forschung und Kunst „leider, leider“ gekürzt und irgendwann gestrichen werden müssen, dass derzeit – „ach, wie tut es uns leid“ – der Umweltschutz ausgesetzt werden muss, weil nur die Konzentration auf die Wirtschaft unser bequemes System erhalten könne, während jegliches Neue ein Experiment wäre, und Experimente in Krisensituationen zu gefährlich seien. Einige Firmen widmen sich dennoch der nachhaltigen Produktion und lassen sich dafür bejubeln, doch es geht weiterhin nur darum, ständig zu konsumieren.

Bitte keinen Tag X

Man wird erklären, dass man ein paar Jahre Geduld haben müsse, bis der Wiederaufbau gelungen sei, dann würde man sich der Umwelt, der Kunst, der Forschung widmen. Ganz gewiss.

Der berühmte Tag X, der für irgendwann im Jahr 2021 versprochen ist, jener Tag, an dem alle Corona-Maßnahmen zurückgefahren werden, alle Geschäfte und Lokale wieder öffnen und das Leben so sein wird, wie es einst war, wird nicht stattfinden. Und sollte er es doch, müssten wir als Menschheit zugeben, endgültig versagt zu haben. Es wäre die Büchse der Pandora und würde lediglich in weitere Pandemien und andere Schreckensszenarien führen.

Eine Chance, serviert auf einem Silbertablett

Warum nicht 2021 die einmalige Chance ergreifen, die das aktuelle Jahr mit viel Schmerzen ungebetenerweise beschert hat? Warum nicht Gewohnheiten ändern, die ohnehin durcheinandergewürfelt wurden? Warum nicht die Befreiung, die irgendwann kommen dürfte, nützen, um das umzusetzen, was nicht die Geldtasche, sondern die Vernunft empfiehlt.

Man kann die Pandemie hassen, die auferlegten Maßnahmen bejammern und diejenigen, die sie auferlegen, zu Schuldigen erklären. Das ist nachvollziehbar. Man kann sich in diesem Gefühl kurzfristig wohlfühlen, weil es guttut, den Zorn oder die Verunsicherung rauszulassen. Doch es wird das neue Jahr beginnen, es kommt der Frühling und mit ihm eine neue Energie. Es werden die Aufräumarbeiten losgehen, wie nach jeder Katastrophe – und es wird die Weggabelung geben, zurückzugehen, soweit es gehen mag, oder etwas Neues zu wagen. Wenn man sich ansieht, welche Menschen, welche Regionen, welche Konzepte sich nach Katastrophen als erfolgreich erwiesen haben, waren es selten jene, die in die Vergangenheit gereist sind.

Ein Lernprozess, wenn schon schrecklich, dann vielleicht nicht umsonst

Vieles im Jahr 2020 ging schleichend, passierte aus einer Notwendigkeit heraus und beschleunigte Entwicklungen. Das Homeoffice, Distance Learning, Online-Meetings statt ständiger Geschäftsreisen – sie sind gekommen, um zu bleiben. Auch die Einkaufsgewohnheiten haben sich verändert – und genau hier liegt viel wirtschaftliches Drama und zugleich Potenzial für ein Umdenken, das uns unter keinen Umständen erspart bleiben wird.

Dazu gehört, etwas mehr auf die Jugend zu hören, denn es ist ihre Zukunft, die vorbereitet wird; dazu gehört auch, nicht gegen die Natur zu errichten, was man errichten will, sondern in Balance mit ihr; die Wirtschaft nicht als Krönung über allem zu sehen, sondern lediglich als ein den Menschen dienendes Werkzeug, wie Bildung, Technik, Kunst, Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, die alle gemeinsam ein Ganzes ergeben. Dann wäre das Jahr 2020 noch immer ein schreckliches gewesen, aber wenigstens nicht ganz umsonst.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt