Der unbequeme Rahmen der Demokratie

Warum sich Politiker die Verfassung zu Herzen nehmen sollten.

 

Unwissenheit schützt nicht vor Bestrafung. Ein Gesetz nicht zu kennen und zu brechen, bewahrt nicht davor, verurteilt zu werden. Das gilt für Verkehrs- oder Steuerdelikte wie für jedes andere Gesetz. Was im Alltag jeder weiß, auch wenn man es nicht immer wahrhaben will, gilt ebenso für das Verhältnis zwischen Politik und Verfassung. Man sollte voraussetzen, dass alle PolitikerInnen die Österreichische Bundesverfassung gelesen und wenn möglich begriffen haben.

Dies ist die Basis für die Arbeit im Nationalrat, in einer Regierung, im Landtag und ebenso im Gemeinderat. Sie bildet den von Bundespräsident Van der Bellen bekanntlich als „elegant“ umschriebenen Rahmen für jegliches politische Handeln.

Die Bundesverfassung kennen: ein Muss für PolitikerInnen

Theoretisch ist Demokratie recht einfach. Die österreichische Bundesverfassung, deren 100. Geburtstag am 1. Oktober fast unauffällig gefeiert wurde, bietet den Rahmen, an den sich alle zu halten haben. Dennoch wird dieser zunehmend geschwächt. Ob es Unkenntnis oder absichtliche Missachtung ist?

Hans Kelsen mag den widerwilligen Umgang mit der Verfassung geahnt haben, denn er ging pragmatisch vor und schrieb alle wichtige Information gleich in die ersten beiden Sätze. Alles Weitere ist lediglich eine nähere Beschreibung und Vervollständigung. „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus“, steht da in einfachen, doch starken Worten. Dass die aktuelle Verfassungsministerin Karoline Edtstadler im Zuge eines Jubiläumstweets gleich den zweiten Satz falsch wiedergegeben hat, passt in das Bild einer Regierung, die die Verfassung nicht als Leuchtturm, sondern als unbequemes Etwas behandelt. Schlimmer ist nur, dass diese Regierung nicht die erste ist, die so agiert.

Schon Kelsen zweifelte

Eine Verfassung lebt nur, wenn sie getragen, immer wieder modernisiert aber eben auch begriffen wird. Das Agieren der österreichischen Regierungen entspricht dem nicht unbedingt. Zu oft werden das Parlament umgangen, staatliche Institutionen schlechtgeredet und die Kontrollorgane belächelt.

Damals, 1920, war die Republik Österreich – gerade erst von der Monarchie befreit – noch keine funktionierende Demokratie. Demgemäß betonte Hans Kelsen eher die Republik als die Demokratie. Nicht nur er hatte Zweifel an diesem neuen Staat. Vielleicht betrachtete Kelsen deshalb die Kraft des Parlaments als essentiell. Dieses sah er als einen der Hauptpfeiler der Republik. Seine Vorstellung war, dass das Parlament die politischen Geschicke des Landes prägen solle. Heute ist dies anders. Es ist die Regierung, die alles bestimmt, während der Nationalrat bloß absegnen oder seinen Zweifel und Protest anbringen kann – und das nicht nur, weil die Regierung die Mehrheit im Parlament besitzt, sondern weil sie sich aktuell nicht mehr um den Nationalrat kümmert. Er ist ihr schlichtweg zu lästig.

Platters schwierige Situation

So naiv es klingt, wenn man fordert, dass eine Regierung das Parlament achtet, so essentiell wäre genau das. Denn mit dem Parlament achtet man auch die Bevölkerung, nach deren Willen das Parlament (durch Wahlen) zusammengesetzt worden ist. Dasselbe gilt in einem föderalistischen Staat wie Österreich für die Landtage und die dortige Bevölkerung.

Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter hat in den letzten Wochen gezeigt, wie wenig er aktuell beiden vertraut. Den Landtag hat er in Bezug auf große Entscheidungen ebensowenig angehört wie die Bürger und Bürgerinnen seines Landes. De facto ist Platter in einer schwierigen Situation. Wurde im März und April so ziemlich alles falsch gemacht, was im Zuge einer Pandemiekrise schiefgehen kann, weil man auf die üblichen, aber eben falschen Personen und Netzwerke gehört und im Versuch der Schadensbegrenzung noch einige Fehler hinzugefügt hat, müssen nun klare Entscheidungen getroffen werden. Egal was geschieht, das Image Tirols als Tourismusregion muss gerettet werden.

Man darf Entscheidungen auch revidieren

All das ist korrekt und verständlich. Allerdings ist es politisch unklug, nicht hinzuhören, und noch unklüger, zu sagen, dass man eh verstehe, aber nicht anders wolle. Die Bundesverfassung und mit ihr die einzelnen Landesverfassungen Österreichs bieten Handlungsstrukturen, mit denen man als Regierender nicht alleine gelassen wird. Man darf und soll andere Meinungen einbeziehen und es steht nirgendwo geschrieben, dass man Entscheidungen nicht zurücknehmen kann, wenn sie sich als nicht mehr relevant oder gar als falsch herausstellen. Ein Einlenken ist keine Schwäche, sondern durchaus im Sinne der Verfassung.

Die langsame Ausschaltung des Parlaments oder der Landtage, die Schwächung der demokratischen Institutionen sowie der Kontrolle und vor allem das Negieren der Ideen aus der Bevölkerung können auf Dauer nicht guttun. Hans Kelsen hat dies gewusst, indem er in der Verfassung das Volk und das Parlament betont hat.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt