Man kann sich auch gegen Wut entscheiden. Das sieht man in Wien und Washington.
Diese erste Novemberwoche trug alles in sich, um Verzweiflung zu verbreiten. Der Terroranschlag in Wien, der die Verletzlichkeit der Sicherheit vor Augen führte; der neuerliche teilweise Lockdown, der viele Menschen in finanzielle und organisatorische Schwierigkeiten stürzt, Depressionen verstärkt und einmal mehr die Frage aufwirft, wie man halbwegs heil aus dieser Situation kommen soll; die Wahlen in den USA, in denen es so aussah, als würde ein Mann, der wenig von Demokratie hält, ein weiteres Mal zum Präsidenten gewählt. Die Nachricht, dass in Äthiopien ein bewaffneter Konflikt eskaliert, schaffte es gar nicht mehr in das Bewusstsein der österreichischen Medien.
Nichts von alldem wird in kurzer Zeit ausgestanden oder verarbeitet sein. Als Gesellschaft haben wir die Wahl, wie wir der Herausforderung begegnen. Man kann das Dunkle sehen, sich in Schuldzuweisungen ergehen, oder man schaut nach vorne. Beide Positionen sind politisch bereits besetzt. Es gibt allerdings noch eine andere Sichtweise, wahrscheinlich die gesündere: ganz im aktuellen Moment sein. Das ist der schwierigste Teil, weil er eine direkte Auseinandersetzung fordert, ein Hinschauen ohne Ausflüchte. Doch in der Art, wie sich die Gesellschaft heute verhält, liegt die Entscheidung für die Zukunft.
Terrorismus endet nicht mit dem Attentat
Die eigentliche Wirkung verbreitet Terrorismus durch die Berichterstattung, wenn diese vor Augen führt, dass all das jedem, zu jeder Zeit, an jedem Ort geschehen kann. Erst wenn Teile der Bevölkerung aufstehen, ihre Unsicherheit als Wut ausleben, Rache fordern und bereit sind, sie an jenen zu üben, die irgendeine zufällige Ähnlichkeit besitzen, sei es Herkunft, Kultur, Religion oder bloß etwas eingebildet Ähnliches, dann hat ein Attentat seine geplante Wirkung erzielt. Der Terrorismus opfert dafür jene, die er vorgibt zu verteidigen, denn daraus rekrutiert er Hass und Nachahmer.
Doch in Wien kam es bisher anders. Die Bevölkerung reagierte nicht mit Aggression, sondern mit Stille, ein wenig Wiener Grant und jenem morbiden Humor, der voller Überlebenswillen ist. Dem getöteten Terroristen schrieb die Schwester einer ermordeten Frau die Worte, er möge die Waffe weglegen und sich zu ihr setzen. Viele Menschen in Wien trauern, doch rufen sie nicht zur Rache auf, gehen nicht in das Stereotyp, dass der Islam böse sei oder Andersdenkende rausgeworfen werden sollten.
Von Helden und Zusammenarbeit
Manche leisteten in der Nacht Hilfe, andere tun es noch. Nicht jeder wird als Held gefeiert, manche Namen von Menschen, die ihre Hotels oder Wohnungen zur Verfügung stellten, in den Lokalen oder Theatern halfen, damit durchgehalten wurde, oder Taxifahrer, die Gestrandete in Sicherheit brachten, bleiben ungenannt. Sie verbreiteten Hoffnung und Kraft.
Natürlich gab und gibt es auch die Hetzer. Sie ließen keine zwölf Stunden auf sich warten. Doch die tatsächlich Betroffenen riefen zum Zusammenhalt auf; nach ersten Schuldzuweisungen, bei denen glücklicherweise nicht alle mitmachten, auch die Regierung. Letztere hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung geschützt ist; nicht nur vor einem Kollaps in den Krankenhäusern, nicht nur vor weiteren terroristischen Anschlägen. Die Opposition wiederum hat die Aufgabe der Kontrolle. Gerade Phasen wie die aktuelle zeigen, dass Kontrolle auch Zusammenarbeit bedeuten kann.
Die Politik kann von der Bevölkerung lernen
In seiner Siegesrede sagte der wahrscheinlich nächste US-Präsident Joe Biden: „Wenn man entscheiden kann, nicht zu kooperieren, dann können wir auch entscheiden zusammenzuarbeiten.“ Dass sich das leichter ausspricht, als es umgesetzt wird, liegt auf der Hand. Schwierige Phasen enden nicht einfach von selbst. Stets sind es Menschen, die etwas ändern. Man kann nicht ungeschehen machen, was ein Mann, dessen Namen wir besser vergessen, in neun Minuten verbrochen hat oder was ein Virus und die Reaktion darauf verändert haben. Doch in jeder Krise gibt es Momente der Hoffnung, und diese entstehen aus der Art, wie Menschen reagieren, wie sehr sie bereit sind, gemeinsam zu stehen, gemeinsam zu handeln.
Die letzten Tage haben in all ihrem Schrecken letztlich sehr schön vorgeführt, dass es „die Demokratie“ oder „den Staat“ nicht gibt, sondern dass es Menschen sind, die eine Demokratie, einen Staat, eine Gemeinschaft ausmachen und lebendig halten. Das brauchen auch die PolitikerInnen als Vorbild, um sorgsam zu entscheiden.
Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt