Im Kampf gegen Covid-19 akzeptieren wir plötzlich Ungewöhnliches.
Hätte jemand vor einem halben Jahr vorausgesagt, dass halb Europa mit einer Ausgangssperre belegt sein würde, nahezu alle Geschäfte Österreichs für mehrere Wochen zusperren müssten und man seinen gewohnten Kaffee oder das Bier nicht mehr im Lieblingslokal trinken dürfe – wie hätte man diese Person ausgelacht. Man hätte nur den Kopf geschüttelt.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit sitzen wir heute zuhause, isoliert und vorsichtig, packen alte Spiele oder Bücher aus, vergleichen über soziale Medien Fotos von unserem Homeoffice und kommunizieren mit unseren Liebsten fast ausschließlich über Distanz.
Ein Alltag wie im Film
Währenddessen sind die Straßen leer. Wer jemandem begegnet, weicht großräumig aus. Manchmal sieht dies tänzerisch aus, dann huscht ein Lächeln übers Gesicht. Man grüßt einander. Hin und wieder tauscht man ein paar flüchtige und in dieser Zeit doch bedeutsame Worte mit anderen aus. Das sind die schönen Aspekte des Ganzen. Davon gibt es, so zynisch das klingt, einige. Selbst die vermeintlich sozialen Medien entpuppen sich nicht bloß als Verbreiter von Fake-News, sondern zeigen, dass wir uns um einander kümmern und letztlich doch soziale Wesen sind. Das zu sehen tröstet.
Die leeren Straßen sind allerdings noch etwas anderes: Sie scheinen wie aus einem Science Fiction-Film entrissen und erinnern fatal an dystopische Erzählungen, in denen die Menschen in einer Zukunftswelt leben, die kaum mehr Gemeinschaft zulässt. Jeder für sich. In einem von oben kontrollierten Staat. Die tägliche Fernsehübertragung der Herrschenden, die ansagen, was in nächster Zeit zu tun ist. Wir kennen das aus Filmen, von Fritz Langs Metropolis (1927) über Fahrenheit 451 (1966) bis hin zur Matrix-Trilogie (1999–2003) oder I am Legend (2007), wo es die Krankheit Masern ist, die die Menschheit fast ausrottet.
Zahllose Verordnungen – und wir nehmen sie fast dankbar an
Wer sich diese Filme jetzt nochmals anschaut, wird viel entdecken, das wir derzeit erleben. Wir warten darauf, was die Regierung verordnet und – zum Glück – hält sich ein Großteil daran. Doch schon alleine der Umstand, dass man nicht nur selbst den „Befehlen von oben“ gehorcht, sondern auch hofft, dass es andere tun, muss uns zu denken geben. Viele Diktaturen haben gezeigt, dass sie vor allem dadurch langfristig ermöglicht wurden, weil sich die Menschen daran gewöhnten und weil es letztlich recht bequem ist, wenn einem gesagt wird, wie man zu leben hat. Das beschert auch Ordnung. Die massiven Gefahren, die dahinter stecken, muss man nicht erwähnen, jeder kennt sie aus dem Geschichtsunterricht.
Das bedeutet nicht, dass man sich jetzt gegen die Regierungen wenden soll, sondern einfach nur, dass wir achtsam bleiben dürfen und wach. Die Weitergabe von Telefonbewegungsdaten gehört zu den Überschreitungen, die passieren; wahrscheinlich nicht einmal böse gemeint. Sie lässt sich gut argumentieren, doch sie bleibt ein Zuviel der Kontrolle.
Die Demokratie hält das aus – solange die Bevölkerung achtsam bleibt
In Zeiten besonderer Herausforderungen ist nichts mehr selbstverständlich. Daher muss man jetzt nicht in den Widerstand gehen, aber bemerken sollte man es und sich später daran erinnern, damit die Verordnungen nicht auch dann bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Eine Demokratie hält es aus, dass man in einer Not- oder Krisensituation manche Freiheit einschränkt. Eine Zeit lang geht das gut. Eine Zeit lang eben.
Doch man darf auch ein wenig optimistisch in die Zukunft schauen. Wenn aktuell sogar der slowenische Pop-Philosoph Slavoj Žižek das Paradox bewundert, dass man Solidarität zeigt, indem man einander fernbleibt, und darin eine „metaphysische Hoffnung“ sieht, nämlich jene, dass wir nachzudenken beginnen, dann dürfen wir hoffen, dass er recht behält. Es wäre nicht das erste Mal.
Erstmals erschienen in: Dolomitenstadt