Politiker als Sündenböcke

Nicht an Moral, sondern an der Transparenz soll man sie messen.

 

Wenn die großen Abenteuer ebenso fehlen wie menschliche Begegnungen, braucht es Skandälchen zur Ablenkung. Irgendwer kümmert sich dann schon um die Moral im Staat; etwa mit der Erkenntnis, dass es nicht Bildung war, die manche Personen an die Regierungsspitze gebracht hat. Möge das Gras gnädig sein, und schnell darüber wachsen. Dann folgt die Moraldebatte um die bösen Impfvordrängler und schließlich jene um die Pharmaunternehmen, die nicht so liefern, wie versprochen.

Das Stichwort müsste Transparenz lauten. Moral nämlich bleibt eine komplizierte Kategorie, die einmal so und einmal anders ausgelegt wird. Transparenz hingegen ist einfach: Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, was ihre PolitikerInnen tun und warum sie es tun.

Alle sind gleich, aber manche …

Die Frage, ob sich jemand unredlich vorgedrängt hat, birgt ein Lehrbeispiel in Sachen Demokratie. Man kann davon ausgehen, dass sich nicht nur BürgermeisterInnen impfen lassen haben, doch aufgrund ihrer Vorbildfunktion sind sie es, die nun im Licht der Öffentlichkeit stehen. Sie würden sich wahrscheinlich ein angenehmeres Licht wünschen und greifen in ihrer Not zu Ausreden, stammeln eine Rechtfertigung und erinnern sich daran, dass sie in irgendeinem Krankenhaus, Altersheim oder einer anderen schnell gefundenen sozialen Einrichtung ein Büro besitzen. Das ist in manchem Fall amüsant, eigentlich aber beschämend – und das nicht nur für die BürgermeisterInnen, sondern auch für jene, die jetzt keifen. Letztere erinnern sich peripher an George Orwell und unken: „Aha, manche sind gleicher!“

Schon ist man in einer Korruptionsdebatte. Laut Transparency International liegt Österreich derzeit in Korruptionsangelegenheiten auf Platz 12 (von 180 getesteten Staaten). Das war schon schlimmer.

Vorgezogene Impfung als Mittel gegen Plexiglasbürgermeister

Doch ist das wirklich der Punkt? Die mangelnde Transparenz zerstört das Vertrauen in die Politik. Wenn ein/e BürgermeisterIn so große Angst hat sich anzustecken, dass er oder sie sich monatelang hinter Plexiglas versteckt und statt der Bevölkerung Mut zu machen, nahezu verschwindet, dann möge man ihr oder ihm im Interesse der Bevölkerung eine vorgezogene Impfung gönnen. Angst nämlich ist ein schlechter Berater.

Man darf dann im Gegenzug zwei konkrete Dinge erwarten: Sie sollen nicht warten, bis sie ertappt werden, sondern ihre Entscheidung für die vorgezogene Impfung aktiv transparent machen und exakt argumentieren. Wenn eine öffentliche Pro-Impfhaltung sichtbar wird, umso besser. Zudem darf man verlangen, dass sie nunmehr ihrer Bevölkerung wieder uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Dann, und nur dann, ist eine Impfung gerechtfertigt.

Aussterbende Spezies Bürgermeister

Generell sollte man mit BürgermeisterInnen ein wenig freundlicher umgehen, es handelt sich schließlich um eine gefährdete Art. Es gibt immer weniger BürgerInnen, die dieses Amt ausüben wollen. Wenn man nicht ausreichend Nebenämter sammelt, ist dieser Job finanziell nicht besonders reizvoll. Man hat kaum ein Privatleben, weil man im Dienst ist, sobald man das Haus verlässt und es gibt zahllose unglamouröse Aufgaben zu bewältigen. Doch selbst das ändert nichts daran, dass Transparenz eine der Hauptaufgaben ist. Wer nicht weiß, wie das geht, werfe einen Blick nach Skandinavien.

Jene PolitikerInnen, die Demokratie verstanden haben, werden immer wissen, warum sie etwas tun. Sie brauchen keine Verteidigungsreden, keine Schreiduelle und erst recht keine latenten Warnungen an KritikerInnen. Sie üben ihre Aufgabe transparent aus, und wenn es eine vorgezogene Impfung tatsächlich braucht, dann macht man das eben öffentlich. Heimlichkeit beschämt alle Seiten. Es geht auch ein wenig darum, sich selbst in Relation zur Bevölkerung zu spüren. Man ist schließlich ein Dienstleister.

Der potenzielle Vorteil der Verknappungsdebatte

Die moralische Debatte hingegen könnte man durchaus umdrehen: Menschen, die sich heimlich bei der Impfung vordrängen und Pharmafirmen, die nicht liefern, regen eine Verknappungsdebatte an. Eine solche führt zu Neid. Das ist eine äußerst hässliche Reaktion, könnte aber dazu führen, dass sich plötzlich weit mehr Personen um den Impfstoff reißen als vorher. So könnte am Ende ausgerechnet durch die nun kritisierten Vordränger die Impfbereitschaft steigen.

Eines allerdings ist verwunderlich. Kann es wirklich sein, dass wir Menschen in diesen vielen Monaten der Pandemie noch immer nicht gelernt haben, dass sich Solidarität und weniger Egoismus rechnen, weil dadurch Menschenleben gerettet werden und weil es nur auf diese Weise wieder möglich sein wird, zurückzukehren zu vielen schönen Gewohnheiten, einem sozialen wie auch wirtschaftlichen Leben? Wenn das nach einem Jahr noch immer nicht gelernt wurde, muss man sich Sorgen machen, was bei der nächsten Krise geschieht. Der Klimawandel etwa geht durch die Pandemie nicht weg und wird weitaus mehr Umdenken und Solidarität fordern, als es ein Virus tut.

 

Zunächst erschienen auf: Dolomitenstadt