Protestieren für die Demokratie

Im Irak kämpft die Jugend um Freiheit und um die Solidarität des Westens

 

Politische Ereignisse und Bewegungen vorherzusehen, ist wie aus einer Kristallkugel zu lesen: spannend und sinnlos. Lediglich Tendenzen lassen sich zuweilen feststellen. Für den Irak gibt es eine solche, die von GegnerInnen wie BefürworterInnen jener politischen Entwicklung geteilt wird: Es sieht so aus, als würden die aktuellen Jugendproteste das Land nachhaltig verändern. In gewisser Weise haben sie es bereits.

Die Stimmung im Irak ist einmal mehr explosiv. Täglich ist mit staatlicher Gewalt zu rechnen. Manchmal ist es „nur“ Tränengas, manchmal wird direkt in die Masse geschossen. Das bisherige Ergebnis: Mehr als 500 Tote unter den DemonstrantInnen, knapp unter 3.000 Verwundete, etwa 75 Verschwundene. Das sind die offiziellen Zahlen des Februar 2020. Ärzte sprechen von mindestens 30.000 Verletzten, die Angaben der Zivilgesellschaft gehen weit darüber hinaus. Fest steht, die Menge an Toten und Verletzten nimmt zu, wobei sich kaum genaue Zahlen ermitteln lassen, weil die Bevölkerung etwas anderes sieht als die Regierung, und andererseits viele Protestierende in die Hauptstadt Bagdad reisen. Im Falle einer Verletzung oder des Todes werden sie nach Hause gebracht und fallen nicht in die Statistik der Demonstrationen, die sich derzeit noch auf wenige Städte beschränken.

Zunächst ging es um Geld, jetzt um Demokratie

Zunächst ging es im Oktober 2019 um zu niedrige Gehälter, um Misswirtschaft und Korruption. Der damalige Premierminister trat deswegen zurück, sein Nachfolger, der ehemalige Kommunikationsminister Mohammed Tawfiq Allawi, wurde Ende Jänner ernannt. Er versprach ein Ende der Korruption und dass er die Demonstrierenden schützen werde, wovon – wenig überraschend – keine Rede sein kann.

Eine gerechtere Verteilung des Geldes ist auch nicht mehr das Hauptmotiv des vorwiegend friedlichen Aufstandes. Die Protestbewegung fordert längst weitgehende demokratische Reformen. Sie ruft aber neben der irakischen Regierung auch den Westen an und hat eine klare Botschaft an die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft: Lasst uns nicht im Stich! So erklären sich auch die kleinen UN-Fahnen, die man häufig auf den Fotos der Demonstrationen sieht. Solange die Proteste von den Medien vor allem auch in anderen Ländern gesehen werden und darüber berichtet wird, sind die jungen DemonstrantInnen nicht allein. Das senkt die Gefahr eines noch gewalttätigeren Einschreitens von Seiten der Polizei oder des Militärs. Das Problem: Derzeit sieht kaum mehr jemand hin.

Physische Gewalt ist nicht das Gefährlichste

Neben den physischen Waffen könnte sich eine zweite Dimension der Gewalt als langfristig noch gefährlicher erweisen. Da sind einerseits die Drohungen, andererseits viel Propaganda, zu deren wichtigstem Element der Versuch gehört, die Bevölkerung zu spalten. So wird den UniversitätsprofessorInnen bewusst gemacht, dass sie vom Staat bezahlt werden und daher möglichst nicht ihre Studierenden, von denen die Proteste ausgehen, unterstützen sollen. Ähnlich erpresst werden die BeamtInnen. Diese Maßnahmen funktionieren besser als Waffengewalt, denn viele sind furchtlos und inzwischen bereit, für ihren Glauben an Demokratie zu sterben.

Der Begriff dafür: strukturelle Gewalt. Damit wird nicht nur der Jugend die Möglichkeit genommen, ihre Meinung kundzutun, um die eigenen Rechte zu kämpfen und für mehr Demokratie einzustehen.

Zuweilen mischen sich aggressive Protestierende unter die Masse, um die Gewalt eskalieren zu lassen. Dahinter steckt zwar Propaganda beider Seiten, doch tatsächlich arbeitet die finanzielle und politische Elite des Landes an der Zersplitterung der Proteste. Dazu gehört auch, dass in den Medien verbreitet wird, dass sich eine Gruppe gegen die andere wende. Derzeit verbreitet sich das Gerücht, dass queere Gruppen die Proteste für Eigeninteressen kapern wollen. Da Homosexualität im Irak strafbar ist, bekommen die ersten anderen Gruppen bereits Angst vor noch mehr Gewalt durch den Staat – und schon ist eine Spaltung vorprogrammiert.

Der Joker als gefährliches politisches Symbol

Parallel dazu finden im Libanon Proteste statt. Die Anliegen sind ähnlich, aber nicht identisch, ebenso die verwendeten Symbole. So sieht man in Beirut häufig das Clowngesicht des Jokers. Das dient einerseits dem Schutz (Anonymität), andererseits wird Beirut mit Gotham City verglichen, einem Pfuhl an Gewalt und Korruption. Im Irak benützt die Gegenseite das Bildnis und beschreibt die Jugend als Joker – und will damit sagen: Die Jugend ist verwirrt, gewalttätig und gefährdet die Bemühungen der Regierung um Frieden. Manche gehen nun dazu über, das Bildnis des Jokers doch noch zu verwenden und die Symbolik umzudrehen: Der Joker ist dann der, der lacht, anstatt Waffen zu verwenden. Er verwendet Humor als politisches Mittel und sagt, dass man keine andere Wahl mehr hat, als auf die Straßen zu gehen.

Doch selbst wenn es der Regierung gelingt, die Proteste noch einmal niederzuschlagen, wird die Bevölkerung sich nicht mehr ruhigstellen lassen. Das liegt diesmal vor allem auch an den Frauen, die sich in ungewohntem Maße an den Demonstrationen beteiligen und dazu auch ihre Kinder auf die Straße mitnehmen – nicht zuletzt, um zu zeigen, dass sie gewaltfrei protestieren.

Gefordert ist nun die internationale Gemeinschaft: Wenn sie nicht bald damit beginnt, die friedlichen Proteste zu unterstützen, wird sie eine einmalige Chance auf Frieden im Irak verpassen und sich auch daran schuldig machen, wenn die Gewalt weiter zunimmt. Solidarität könnte neben aller menschenrechtlichen Anliegen auch eine Investition in die Zukunft sein. Aber dazu würde es etwas mehr Mut in der europäischen Außenpolitik brauchen.