Widerspruch ist essentiell für ein konstruktives Miteinander

Nicht nur Politiker sollten lernen, mit Kritik umzugehen. Furcht vor Kritik verhindert das Zuhören.

 

Wehleidigkeit ist eine unsinnige Eigenschaft. In der Politik ganz besonders, und je länger jemand im Amt ist, desto stärker scheint diese Eigenschaft zu wachsen. Manche Dorfkaiser aber auch betagte US-Präsidenten sind wahre Meister in Wehleidigkeit. Die Anrufe von Kickl, Strache und Co beim ORF bleiben ebenfalls legendär. Bundeskanzler Kurz und sein Team wiederum nehmen sich sogar die Zeit, Privatpersonen anzurufen, wenn Kritik öffentlich geäußert wird. Man mag das nennen wie man will, es endet immer mit Einschüchterung, denn wer würde nicht zumindest kurzfristig erstarren, wenn der Kanzler oder einer seiner Berater plötzlich anriefe und einen zurechtwiese. Einfacher geht das regional, da wird die kritisierende Person zum Gespräch zitiert oder längst geplante Projekte der widersprechenden BürgerInnen plötzlich nicht umgesetzt. Ausgerichtet wird dann etwas über Dritte und auf der Straße dreht man sich elegant weg. Vogelstraußpolitik.

Sportler und Künstler müssen sich jederzeit Kritik gefallen lassen, Politiker verbitten es sich in zunehmendem Maße, als wäre geäußerte Kritik ein Makel. Warum tun sich viele so schwer damit? Sie schaden damit der Demokratie, der Bevölkerung aber auch sich selbst, denn wer nur mehr auf jene hört, die finanziell oder karrieremäßig von einem abhängig sind, wird nie wieder in den Genuss eines ehrlichen Feedbacks kommen.

Kritikfähigkeit macht den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur

Was die Demokratie von der Diktatur unterscheidet, ist unter anderem genau das: die Möglichkeit, Kritik zu äußern, und dementsprechende Kritikfähigkeit beim Empfänger. Widerspruch ist essentiell für ein konstruktives Miteinander. Man macht Fehler, übersieht etwas oder verbohrt sich in einer Idee, die mit jedem Nachdenken besser wird, von außen betrachtet hingegen keinerlei Sinn ergibt. Betriebsblindheit wird das genannt. Auch PolitikerInnen haben sie. Die enge Vernetzung zwischen den VertreterInnen bestimmter Institutionen, gleichgültig ob Wirtschaft, Medien oder Nichtregierungsorganisationen, mit Politik ist dann wenig hilfreich, denn auch hier entstehen im Laufe der Zeit Abhängigkeiten.

In der Wissenschaft ist es selbstverständlich, dass man vor Veröffentlichung eines Artikels einige Personen bittet, mit kritischem Blick auf die Ideen zu schauen. Das tut manchmal unangenehm weh, ist für die Qualität des Werkes aber immer von Vorteil. Dasselbe trifft auf die Filmbranche zu. Jeder Film wird von einigen Gruppen kritisch angeschaut, kommentiert und daraufhin partiell umgeschnitten, ehe er fürs Kino oder Fernsehen freigegeben wird. Auch andere Branchen machen das so. In der Politik scheint das schwieriger zu sein.

Furcht verhindert konstruktiven Widerspruch

Es bräuchte daher Widerspruch, der nicht vernichtet, sondern etwas anbietet. Doch ist es immer wieder die Furcht, die das verhindert – und zwar auf beiden Seiten. Furcht vor Kritik verhindert das Zuhören. Furcht davor, dass die eigene Kritik missbilligt wird und Konsequenzen hat, verhindert es, offen zu sprechen. Durch wegsehen kann der Status Quo erhalten bleiben. Man sagt nichts, man hört nichts, alles bleibt gleich. Gut tut das niemandem.

Das politische System und die Regierenden sind stets ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn man sagt, jedes Volk habe die Regierung, die es verdient, ist das zwar banal formuliert, doch tatsächlich unterschätzen die Wählerinnen und Wähler häufig ihren Einfluss sowie ihre Verantwortung und reden sich dann auf die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten raus. Zu schimpfen ändert nichts, konstruktive Kritik hingegen kann Veränderung bringen. Kritikfähigkeit geht deshalb stets in beide Richtungen, das Wagnis sie auszusprechen, sowie sie anzuhören und anzunehmen.

Auch die Gesellschaft braucht zuweilen Kritik

Die Gesellschaft und damit jede Bürgerin und jeder Bürger darf es sich ebenfalls gefallen lassen, zu hören, sie sei politisch zu wenig aktiv, zu sehr auf sich selbst konzentriert, anstatt das gemeinsame Interesse zu sehen, oder sie sei rassistisch, antifeministisch, homophob und einiges mehr. Man kann sich vor dieser Kritik ängstigen und sie mit einer Woge der Entrüstung wegstoßen. Man kann aber auch hinhören und einen zweiten Blick auf das eigene Denken und Handeln werfen. Dann wird deutlich, dass hinter der Aussage nicht jedes Mal ein direkter Angriff auf die Person oder Gesellschaft an sich steckt, sondern sie kann als Möglichkeit zu lernen begriffen werden.

Dann gibt es sogar die Chance auf gesellschaftlichen Wandel. Doch dazu muss man darauf verzichten, jeden Widerspruch gleich abzuwehren, und wenn man das von PolitikerInnen verlangt – und man muss das nachdrücklich verlangen – sollte man es auch selbst so handhaben. Das ist Teil der demokratischen Verantwortung jedes und jeder Einzelnen. Dann ist die Umweltschützerin, die eine Entschuldigung eines unflätigen Politikers verlangt, weder widerlich, noch Luder, und der Politiker kann nicht bloß eine Entschuldigung hinwerfen, sondern den (Un-)Fall zum Anlass eines klügeren Verhaltens machen. Das geht aber nur, wenn man Kritik ernstnimmt und nicht aus politischem Kalkül oder Gegnerschaft äußert.

Zunächst erschienen in: Dolomitenstadt